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Harry Rowohlt im Ballenlager Dichterlesung? Normalerweise ein Genre für handverlesene Literaturfreunde in intimen Räumlichkeiten. Am Freitagabend bei der Kulturinitiative im Ballenlager war alles anders. Im Vorraum gab es einen umsichtig zusammengestellten Büchertisch, lange Schlangen vor der Abendkasse, ein fast ausverkauftes Ballenlager. Vieles deutete auf einen ungewöhnlichen Abend. Und in der Tat: Harry Rowohlts legendäre Marathon-Lesung, die die Kulturinitiative ins Vorweihnachtliche gelegt hatte, hielt, was sich viele von ihr versprachen. Der von einem Rezensenten auch liebevoll als Paganini der Abschweifungen" charakterisierte Dichter, Denker, Übersetzer, Lindenstraßen-Penner und Rezitator baute in und zwischen kurzen Leseblöcke ein ganzes Netzwerk an Geschichten. Zur Freude des Publikums verlor er scheinbar immer wieder den rezitatorischen Faden zu Gunsten der sympathisch vorgetragenen Rowohltschen Nabelschau. Das Auditorium begleitete Harry Rowohlt auf seinen Lehrjahren beim Frankfurter Suhrkamp-Verlag, schmeckte die adventlichen Spekulatius bei den Besuchen diverser Bahnhofsmissionen, erlebte seine Ruhrgebietshuldigung bei der Schilderung einer Fischhandlung in Unna. Zwischen wallendem Haar und Vollbart blinzelte er jederzeit schelmisch ins Publikum, das gebannt an seinen Lippen hing. Da wurde aus dem ursprünglich simplen Eintopf-Rezept ein empfehlenswert nachzulesender kulinarischer Wildwest-Schundroman mit blauen Bohnen. Harry Rowohlt philosophierte über Begrifflichkeiten von Blauäugigkeit bis Stammtischpolitik, Leiden der Rechtschreibreform und machte aus Alltäglichkeiten und Banalitäten wahre Fiktionen. Unvergessen wird dem Grevener Publikum seine aus dem Hessischen ins Hamburger Milieu übertragene Schilderung des Baumnadelns bleiben, mit der er wahre Begeisterungsstürme entfachte. Inspiriert durch den gestifteten irischen Whiskey und umnebelt vom Rauch gab er unzählige jugendfreie Witze zum Besten und intonierte mit eindrucksvollem Bass drei Hymnen. Der Abschweifer breitete einen wahren Piratenschatz unergründlicher Anekdoten aus. Sein virtuoser Umgang mit Sprache verknüpft mit gelebter Heiterkeit und fast homerischem Gelächter faszinierte Hörer und Seher. Auf den Übersetzer-Olymp haben Literaturkritiker Rowohlt längst gehievt. Als feinsinniger Beobachter und Erzähler dürfte ihm gleichfalls ein Platz ganz oben sicher sein.
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