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Dichterlesung in der Linse (WN) Der Abend hatte etwas Unklares: 20 Grevener saßen im Kellerraum der Linse. Das Licht war matt; die Atmosphäre konspirativ, fremd und doch irgendwie anheimelnd. Zwei polnische Lyriker lasen aus ihren Werken. Die Übersetzung war gut, aber es ging alles sehr schnell. Der Kopf hatte Mühe, den Sinn ganz zu erfassen. Vielleicht sollte er das aber auch nicht vollständig. Vielleicht reichte dieser erste Kontakt, dieser erste Schritt in eine andere, neue Richtung. Polen ganz nah; polnische Lyrik in Greven. Die ganze Welt schaut auf Polen. Neugierig verfolgt man täglich Meldungen über die sich entwickelnde Demokratie im östlichen Nachbarland. Gleichzeitig erinnert der 1. September an den Überfall durch die deutsche Wehrmacht vor 50 Jahren. Die Grevener Kulturinitiative hat ein dreiteiliges Programm zusammengestellt, das ein Stück unmittelbare Verbindung zu polnischer Kultur schaffen soll, Den Auftakt bildete eine Dichterlesung. Gaby Ahaus eröffnete die Lesung. Dem Publikum stellte sie die beiden Lyriker vor. Stanislaw Franczak arbeite als Kulturdezernent in Krakau. Wit Jaworski sei als Philosoph im Kulturrat tätig. Marek Hermann, ein Pole, der in Greven wohnt, arbeitete als Dolmetscher. Jan Terstiege las die deutsche Übersetzung der Gedichte vor. Die beiden Lyriker lasen in polnischer Sprache. Das verstanden zwar die meisten nicht. Aber: Der Reiz geht über das Intellektuelle hinaus, stellte ein Hörer fest, das ist sehr beeindruckend. Wit Jaworski hatte zuvor angemerkt, daß auch dem Rhythmus der Sprache eine wichtige Rolle zukomme; daher der Originalton. Die Gedichte waren alle sehr kurz. Man mußte schon gut aufpassen, um den Sinn nicht zu verpassen. Stanislaw Franczak sprach über das Glück einer alten Irren, die jeden Tag ihren gefallenen Sohn aufsuchte und nicht an Gott glaubte. Die Freiheit stellte er an anderer Stelle dar als trügerisches, relatives Element (alle Brücken habe ich abgebrochen, jetzt bin ich frei, kann laufen von Grenze zu Grenze). Wit Jaworski setzte seinen Akzent auf politische Inhalte. Er verwendete viele Schlüsselworte. Meine Gedichte sind 20 Jahre alt, ließ er durch den Dolmetscher mitteilen, damals bewegten sie sich noch im Untergrund. Überhaupt habe sich vieles verändert. Seine Generation habe sich viel mit der herrschenden Propaganda beschäftigt, hieran Kritik geübt. Die heutige Dichtergeneration wolle mehr an das Innere, das in der Politik ist. Sie sei einen Schrittweiter. Die Poesie ist weit vor der Wirklichkeit, ließ Stanislaw Franczak in der abschließenden Diskussion wissen. Die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten seien deshalb kaum Thema von Dichtung. Dichter gehen einen andern Weg als die Wirklichkeit. Im Augenblick gebe es viele Veränderungen in Polen. Kultur werde nicht mehr diktiert, kein Instrument mehr von Politik. Statt dessen gebe es Konkurrenz. Die Rolle des polnischen Dichters würde sich dadurch verändern.
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